Wohl nicht zuletzt angestoßen von Patrick Breyer vom AK Vorratsdatenspeicherung (s. dazu hier und hier) ist nun in der juristischen Literatur die Debatte über die Pflicht zur Vorratsdatenspeicherung bei der Erbringung unentgeltlicher Dienste entbrannt. Christoph Mayer hat nun einen Aufsatz mit dem Titel „Pflicht zur Vorratsdatenspeicherung bei unentgeltlichen E-Mail-Diensten? – Die Definition des Telekommunikationsdienstes gem. § 3 Nr. 24 TKG und ihre Auswirkungen auf die Vorratsdatenspeicherung“ veröffentlicht (erschienen in: K&R 2009, 313).
— Knackpunkt: Auslegung von „in der Regel gegen Entgelt“ erbrachten Diensten —
Knackpunkt der Frage, ob jemand einen Telekommunikationsdienst i.S.d. § 3 Nr. 24 TKG anbietet, ist bei unentgeltlichen Diensten die Auslegung des Merkmals „in der Regel gegen Entgelt erbrachter Dienst“.
Mayers Aufsatz ist dabei durchaus als Gegenansicht zur Auffassung von Breyer (hier) zu verstehen. Während nämlich Breyer unter Verwendung einer europarechtlichen Auslegung und unter Bezug auf verschiedene Urteile des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) von einer Auslegung im Einzelfall („Erbringt dieser Diensteanbieter den Dienst unentgeltlich?“) ausgeht, stellt Mayer darauf ab, ob die Entgeltlichkeit branchenüblich ist (in ungefähr: „Erbringt die Mehrzahl der Anbieter eines Dienstes dieser Art den Dienst unentgeltlich oder entgeltlich?“). Dabei ist zu beachten, dass bereits eine Finanzierung über Werbung durch den EuGH als „entgeltlich“ angesehen wird.
1. Auslegung
Mayer nimmt eine Auslegung des Begriffs „in der Regel gegen Entgelt“ nach der sprachlich-grammatikalischen, der systematischen und der teleologischen Auslegungsmethode vor.
Sprachlich-grammatikalisch sei auf jeden Fall auf Branchenüblichkeit abzustellen.
„Die Formulierung ‚in der Regel‘ macht aber letztlich keinen Sinn, wenn man sie lediglich auf einen konkreten Dienst bezieht. Dieser wird wohl kaum zeitweise unentgeltlich und zeitweise entgeltlich betrieben.“
Dieser Schluss klingt grundsätzlich logisch. Allerdings zeigt sich gerade bei Modellen wie (früher) bei FON (WLAN-Anbieter), dass es sowohl den Linus (unentgeltlich) und den Bill (entgeltlich) gab (mittlerweile hat FON das Modell geändert, s. hier), obwohl es sich um denselben Diensteanbieter (=Betreiber des Knotens) handelt. Ob jetzt der Linus-Nutzer wiederum eine Finanzierung durch die Möglichkeit der kostenlosen Nutzung „als Entgelt“ erhält, ist dann wohl wieder eine andere Frage. Das Beispiel zeigt jedoch, dass eine Teilung in entgeltlich und unentgeltlich bei der Vielzahl der möglichen Dienstmodelle durchaus denkbar ist, und der Anbieter zwischen diesen Modellen wechseln kann.
Andererseits hätte Mayer noch darauf abstellen können, dass das BGB einen sehr ähnlichen Ansatz im Werkvertragsrecht verfolgt: Nach § 632 BGB gilt beim Werkvertrag eine „Vergütung gilt als stillschweigend vereinbart, wenn die Herstellung des Werkes den Umständen nach nur gegen eine Vergütung zu erwarten ist.“ Dies könnte sich mit „in der Regel gegen Entgelt“ decken. Gegen die Heranziehung des BGB sprechen natürlich die zeitliche Differenz und die Verschiedenheit von Zielrichtung und Entstehung von § 632 BGB und § 113a TKG.
In der systematischen Auslegung bezieht Mayer die Verwendung des Begriffs „Telekommunikationsdienst“ und die Einstufung in die Begriffspaare „gewerblich“, „geschäftsmäßig“ und „in der Regel gegen Entgelt“ und deren (teilweise) Verwendung im TMG ein und folgert auch daraus, dass nicht auf den konkreten Dienst abzustellen sei.
Breyer hingegen ist der Auffassung, dass die Formulierung in § 113a TKG in Übernahme der Formulierung der europäischen Richtlinie erfolgte und deshalb dieser systematische Ansatz nicht zwingend sei.
Teleologisch schließlich geht Mayer davon aus, dass der Gesetzgeber „unentgeltliche Telekommunikationsdienste mit dem TKG erfassen und ihnen sowohl Rechte einräumen als auch Pflichten auferlegen“ wollte.
E-Mail-Diensteanbieter sind daher nach der Auffassung von Mayer in der Regel als „entgeltliche Dienste“ einzustufen.
2. Notwendige Einschränkung des § 113a TKG
Mayer geht weiter darauf ein, ob die Anwendbarkeit von § 113a TKG teleologisch zu reduzieren sei. Dem tritt er aber entgegen:
„Die Vorratsdatenspeicherung hingegen bezweckt insbesondere die Gewährleistung einer wirksamen Strafverfolgung. Es erscheint schon problematisch, welche nationale Stelle überhaupt befugt wäre, eine derartige teleologische Reduktion vorzunehmen. In jedem Fall würde es zu großen Lücken im Rahmen der Strafverfolgung kommen, wenn kleinere Anbieter von unentgeltlichen E-Mail-Diensten im Wege einer teleologischen Reduktion aus dem Anwendungsbereich der Vorratsdatenspeicherung herausgenommen würden. Damit würden Fluchtwege für Kriminelle geschaffen, die die Vorratsdatenspeicherung letzlich ins Leere laufen ließen.“
Zugunsten von Mayers Auffassung lässt sich zusätzlich argumentieren, dass der Gesetzgeber ausdrücklich auch Anonymisierungsdienste erfassen wollte (und damit Straflücken schließt). Allerdings ließe sich dieser Schluss auch für die anderen Maßnahmen der TK-Überwachung nach § 110 TKG ohne weiteres vertreten. Die TK-Überwachung ist aber nach § 3 Abs. 2 Nr. 6 TKÜV auf diejenigen Anbieter beschränkt, die min. 10.000 Nutzer/Teilnehmer haben (hierzu eingehend Mantz, Rechtsfragen offener Netze, S. 61 f.).
Zusätzlich lässt Mayer bei dieser Feststellung aber den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz weitgehend außer Acht. Der europäische Gesetzgeber hat in den Erwägungsgründen der Vorratsdatenspeicherungsrichtlinie sehr deutlich darauf hingewiesen, dass die Vorratsdatenspeicherung schwere Eingriffe in Grundrechte der Diensteanbieter und der Nutzer bewirkt. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht in seinen Eilbeschlüssen bisher nur den Zugriff auf die zu speichernden Daten beschränkt, sieht aber die Möglichkeit eines Grundrechtseingriffs offensichtlich auch. Vor diesem Hintergrund wäre eine verfassungskonforme Auslegung dahingehend angebracht, dass gerade solche kleinen, vollständig unentgeltlich (im Hinblick auf die Anzahl der Nutzer in Anwendung des Gedanken des § 3 Abs. 2 Nr. 5 TKÜV) erbrachten Dienste aus dem Anwendungsbereich auszunehmen sind.
Gerade im Bezug auf E-Mail-Dienste verfängt das Argument von Mayer ohnehin nur bedingt, denn es ist für niemanden problematisch, einen E-Mail-Diensteanbieter im Ausland zu wählen, der der deutschen (bzw. europäischen) Vorratsdatenspeicherung nicht unterliegt. Dass, wie von Mayer prognostiziert, unentgeltliche Dienste „geradezu Anziehungspunkte“ für Kriminelle wären, ist also wenigstens nicht zwingend.
3. Europarechtliche Auslegung?
Leider setzt sich Mayer nicht wirklich mit der von Breyer vorgeschlagenen europarechtlichen Auslegung des Begriffs „in der Regel gegen Entgelt“ auseinander. Denn Breyer hat in mehreren logischen und nachvollziehbaren Schritten eine solche für vorrangig erachtet und mit Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs unterlegt.
So lobenswert und verständlich die ausführliche Befassung mit der Einbettung und Auslegung von § 113a TKG in das deutsche Rechtssystem ist, kann die europarechtliche Komponente vor dem Hintergrund der Entstehungsgeschichte von § 113a TKG nicht ausgeblendet werden.
4. Fazit
Mit dem Aufsatz von Mayer ist der Streit nun eröffnet – beide Seiten sind nun offen vertreten. Die Folgen der jeweiligen Auffassung sind gravierend (Investition in Infrastruktur und Betrieb, Vorhalt von Daten und Aufwand für die Herausgabe bei Anfrage oder nicht). Die Einschätzung durch die Gerichte lässt sich derzeit noch überhaupt nicht absehen. Es streiten gute Argumente für beide Seiten. Für den Ansatz von Breyer spricht insbesondere, dass die EU-Kommission auf Anfrage des FDP-Europaabgeordnetem Alvaro wohl eher von einer Einzelfallbetrachtung ausgeht (s. hier).
Es wäre jedenfalls wünschenswert, wenn Breyer seinen Blog-Eintrag noch einmal in einer juristischen Fachzeitschrift veröffentlichen würde, denn sein Blog dürfte für einen mit einem solchen Fall betrauten und nach Informationen suchenden Richter eher verborgen bleiben, auch wenn Mayer den Blog-Eintrag zitiert.