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EuGH, Urt. v. 24.11.2011 – C-70/10: Scarlet vs. SABAM: Filterpflichten – kurze Bewertung

1. Einleitung

Der EuGH hat kürzlich im Rahmen der Beantwortung einer Vorlagefrage Stellung zu der Frage genommen, ob ein Gericht einem Access Provider auferlegen kann, zur Verhinderung von Urheberrechtsverletzungen seiner Kunden bei Nutzung von Filesharing-Netzwerken ein Filtersystem einzurichten (EuGH, Urteil v. 24.11.2011, Az. C?70/10, Volltext hier). Ich hatte kurz über die Vorlage berichtet (s. hier).

Die Vorlagefrage Nr. 1 lautete dabei:

Können die Mitgliedstaaten aufgrund der Richtlinien 2001/29 und 2004/48 in Verbindung mit den Richtlinien 95/46, 2000/31 und 2002/58, ausgelegt im Licht der Art. 8 und 10 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, dem nationalen Richter erlauben, in einem Verfahren zur Hauptsache allein aufgrund der Vorschrift, dass „[s]ie [die nationalen Gerichte] … ebenfalls eine Unterlassungsanordnung gegen Vermittler erlassen [können], deren Dienste von einem Dritten zur Verletzung eines Urheberrechts oder verwandter Rechte genutzt werden“, gegen einen Anbieter von Internetzugangsdiensten die Anordnung zu erlassen, auf eigene Kosten zeitlich unbegrenzt für sämtliche Kunden generell und präventiv ein Filtersystem für alle eingehenden und ausgehenden elektronischen Kommunikationen, die mittels seiner Dienste insbesondere unter Verwendung von „Peer-to-Peer“-Programmen durchgeleitet werden, einzurichten, um in seinem Netz den Austausch von Dateien zu identifizieren, die ein Werk der Musik, ein Filmwerk oder audiovisuelles Werk enthalten, an denen der Kläger Rechte zu haben behauptet, und dann die Übertragung dieser Werke entweder auf der Ebene des Abrufs oder bei der Übermittlung zu sperren?

Das Urteil ist im Hinblick auf die Praxis deutscher Gerichte, die im Rahmen der Störerhaftung Pflichten zur Verhinderung von Verletzungen aufzuerlegen, sehr aufschlussreich und gibt – wenn auch in relativ engem Rahmen – dieser Rechtsprechung Grenzen auf.

2. Rechtsrahmen

Zunächst ist zu bemerken, dass der EuGH für das Urteil die einschlägigen europäischen Richtlinien in Bezug nimmt:

  • E-Commerce-RL 2000/31/EG
  • Urheberrechts-RL 2001/29/EG
  • Enforcement-RL 2004/48/EG
  • Datenschutz-RL 95/46/EG
  • Datenschutz-RL für elektronische Kommunikation 2002/58/EG

3. Entscheidung

Nachfolgend die hervorzuhebenden Ausführungen des EuGH als Zitat:

Folglich müssen diese Regelungen u. a. Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2000/31 beachten, wonach es nationalen Stellen untersagt ist, Maßnahmen zu erlassen, die einen Diensteanbieter verpflichten würden, die von ihm in seinem Netz übermittelten Informationen allgemein zu überwachen.

Insoweit hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass ein solches Verbot sich u. a. auf innerstaatliche Maßnahmen erstreckt, die einen vermittelnden Dienstleister wie einen Provider verpflichten würden, sämtliche Daten jedes Einzelnen seiner Kunden aktiv zu überwachen, um jeder künftigen Verletzung von Rechten des geistigen Eigentums vorzubeugen. Im Übrigen wäre eine solche allgemeine Überwachungspflicht nicht mit Art. 3 der Richtlinie 2004/48 zu vereinbaren, wonach die Maßnahmen im Sinne dieser Richtlinie gerecht und verhältnismäßig sein müssen und nicht übermäßig kostspielig sein dürfen (vgl. Urteil L’Oréal u. a., Randnr. 139).

Somit würde eine solche präventive Überwachung eine aktive Beobachtung sämtlicher elektronischen Kommunikationen im Netz des betreffenden Providers erfordern und mithin jede zu übermittelnde Information und jeden dieses Netz nutzenden Kunden erfassen.

Angesichts des Vorstehenden ist festzustellen, dass die dem betroffenen Provider auferlegte Anordnung, das streitige Filtersystem einzurichten, ihn verpflichten würde, eine aktive Überwachung sämtlicher Daten, die alle seine Kunden betreffen, vorzunehmen, um jeder künftigen Verletzung von Rechten des geistigen Eigentums vorzubeugen. Daraus folgt, dass diese Anordnung den Provider zu einer allgemeinen Überwachung verpflichten würde, die nach Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2000/31 verboten ist.

Deshalb würde eine solche Anordnung zu einer qualifizierten Beeinträchtigung der unternehmerischen Freiheit des Providers führen, da sie ihn verpflichten würde, ein kompliziertes, kostspieliges, auf Dauer angelegtes und allein auf seine Kosten betriebenes Informatiksystem einzurichten, was im Übrigen gegen die Voraussetzungen nach Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2004/48 verstieße, wonach die Maßnahmen zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums nicht unnötig kompliziert oder kostspielig sein dürfen.

Darüber hinaus würden sich die Wirkungen dieser Anordnung nicht auf den betroffenen Provider beschränken, weil das Filtersystem auch Grundrechte der Kunden dieses Providers beeinträchtigen kann, nämlich ihre durch die Art. 8 und 11 der Charta geschützten Rechte auf den Schutz personenbezogener Daten und auf freien Empfang oder freie Sendung von Informationen.

Zum einen steht nämlich fest, dass die Anordnung, das streitige Filtersystem einzurichten, eine systematische Prüfung aller Inhalte sowie die Sammlung und Identifizierung der IP-Adressen der Nutzer bedeuten würde, die die Sendung unzulässiger Inhalte in diesem Netz veranlasst haben, wobei es sich bei diesen Adressen um personenbezogene Daten handelt, da sie die genaue Identifizierung der Nutzer ermöglichen.

Denn es ist unbestritten, dass die Antwort auf die Frage der Zulässigkeit einer Übertragung auch von der Anwendung gesetzlicher Ausnahmen vom Urheberrecht abhängt, die von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat variieren. Ferner können bestimmte Werke in bestimmten Mitgliedstaaten gemeinfrei sein oder von den fraglichen Urhebern kostenlos ins Internet eingestellt worden sein.

4. Bewertung

Was lässt sich aus dem Urteil des EuGH ableiten – und wie wirkt sich dies für die Betreiber offener Netze aus?

a. Grundsätzliches

Man sollte bei der Lektüre des Urteils jeweils im Hinterkopf behalten, dass der EuGH allein auf die Vorlagefrage geantwortet hat. Die Vorlagefrage ist durch das vorlegende Gericht sehr eng formuliert worden, was sich insbesondere daran zeigt, dass die einzelnen Komponenten der Vorlagefrage durch ein „und“ verknüpft sind:

ein System der Filterung

– aller seine Dienste durchlaufenden elektronischen Kommunikationen insbesondere durch die Verwendung von „Peer-to-Peer“-Programmen,

– das unterschiedslos auf alle seine Kunden anwendbar ist,

– präventiv,

– auf ausschließlich seine eigenen Kosten und

– zeitlich unbegrenzt

Bricht man eine der Voraussetzungen aus der Vorlagefrage heraus (z.B. die Kostentragung des Access Providers), ist die Antwort (zumindest formell) wieder offen.

b. Abwägungsfragen

Trotz dieses engen Fokus zeigt das Urteil des EuGH doch deutlich, dass das Gericht aus unterschiedlichen Richtungen zu seinem Ergebnis gelangt ist. Zunächst sieht es Filterpflichten als Verstoß gegen das Verbot der allgemeinen Überwachungsplicht in Art. 15 E-Commerce-RL. Es weist dann darauf hin, dass der Schutz geistigen Eigentums nicht schrankenlos gewährleistet sei und daher mit gewissen Grenzen gewährt wird. Erst dann kommt die Erwägung, dass ein Filtersystem aufwändig und kostspielig sei und daher auch massiv in die Rechte der Access Provider eingreifen würde.

Zum anderen spielen nach der Auffassung des Gerichts die Grundrechte der betroffenen Kunden eine relevante Rolle.

Und letztlich bezieht das Gericht die Informationsfreiheit ein.

Nach Ansicht des Gerichts ist im Rahmen einer Abwägung dieser betrachteten Rechtspositionen eine Filterpflicht ein Verstoß gegen das „angemessene Gleichgewicht“.

c. Schlussfolgerungen

Die obige Aufzählung sollte vor allem verdeutlichen, dass es sich um eine relativ komplexe Abwägung handelt. Das Gericht geht  nicht im Einzelnen auf die Gewichtung der jeweiligen Rechtspositionen ein, sondern bleibt knapp und eher oberflächlich. Daraus kann man den Schluss ziehen, dass die (konkret gestellte) Frage für das Gericht sehr eindeutig und leicht zu beantworten war. Denn hätte das Gericht dem Schutz der Rechtsinhaber trotz Schranken einen höheren Stellenwert eingeräumt, wäre es auf das Verhältnis der einzelnen Rechtspositionen zueinander vermutlich viel näher eingegangen und hätte eine umfassende (Einzel-)Abwägung vorgenommen. Zählt man die Pro- und Contra-Punkte (wie oben dargestellt) durch, würde es 3:1 für ein Verbot von Filterpflichten stehen.

Für die Frage, ob ein sogenanntes Quick-Freeze (dazu s. LG München, Beschl. v. 20.8.2011 – 21 O 7841/11 und hier) zulässig wäre, hilft das Urteil aufgrund des engen Rahmens nicht unbedingt weiter. Die für eine solche Vorlagefrage abzuwägenden Rechte hat das Gericht allerdings klar herausgearbeitet.

d. Offene Netze

Das Gericht hatte vorliegend über einen „klassischen“ Access Provider zu entscheiden. Das Konzept der offenen Netze hatte es vermutlich nicht vor Augen. Es dürfte allerdings kaum mehr in Frage gestellt werden, dass es sich beim Betreiber eines offenen Netzes um einen Access Provider handelt (Mantz, Rechtsfragen offener Netze, 2008, S. 49 mwN). Damit ist das Urteil des EuGH vollständig auf offene Netze anzuwenden.

Der Betreiber eines offenen Netzes kann schließlich auch all die vom Gericht angeführten Rechtspositionen für sich verbuchen, insbesondere Informationsfreiheit, Rechte seiner Kunden und last but not least die Kostenlast, die bei Mini-Netzwerken natürlich einen besonders starken Eingriff bedeuten würde. Diesen Grundsatz stellt schließlich auch die TKÜV auf, die Access Provider mit weniger als 10.000 Nutzern freistellt (s. zur alten Fassung der TKÜV Mantz, Rechtsfragen offener Netze, 2008, S. 61 f.).

Die Klarheit der Abwägung spricht letztlich auch dafür, dass bereits weniger stark eingreifende Pflichten zumindest bei kleinen Providern eher als unzulässig einzustufen sein können.

Für die Betreiber von offenen Netzwerken ist damit zumindest soweit die Vorlagefrage reicht, Rechtsklarheit geschaffen worden.

5. Exkurs: Personenbezug von IP-Adressen

Für einige Diskussion hat die Frage gesorgt, ob der EuGH im Urteil en passant die Frage beantwortet hat, ob IP-Adressen Personenbezug aufweisen.

a. Relativ oder absolut?

Zur Erinnerung: Nach § 3 Abs. 1 BDSG sind personenbezogene Daten „Einzelangaben über persönliche oder sachliche Verhältnisse einer bestimmten oder bestimmbaren natürlichen Person“.

Dabei ist in Rechtsprechung und Literatur umstritten, ob IP-Adressen „per se“ als personenbezogen zu betrachten sind (sogenannter „absoluter Personenbezug“) oder nur für denjenigen, der aufgrund des Zugriffs auf andere Daten, z.B. die Kundendatenbank eine Identifizierung vornehmen kann (sogenannter „relativer Personenbezug“), was zur Folge hätte, dass IP-Adressen für den Access Provider personenbezogen sind, für einen Dritten aber nicht. Die Diskussion hat vor allem in Deutschland aber teilweise keine so große Relevanz als über die Auskunftsansprüche der Enforcement-RL der Zugriff auf die zur Identifizierung nötigen Daten beim Access Provider unter geringen Voraussetzungen möglich ist, was die hunderttausendfach erteilten Auskunftsersuchen belegen.

b. Die Ausführungen des Gerichts

Im Urteil des EuGH spricht für einen absoluten Personenbezug (zunächst) der folgende Satz:

Zum einen steht nämlich fest, dass die Anordnung, das streitige Filtersystem einzurichten, eine systematische Prüfung aller Inhalte sowie die Sammlung und Identifizierung der IP-Adressen der Nutzer bedeuten würde, die die Sendung unzulässiger Inhalte in diesem Netz veranlasst haben, wobei es sich bei diesen Adressen um personenbezogene Daten handelt, da sie die genaue Identifizierung der Nutzer ermöglichen.

Die Diskussion mit Bezug auf das Urteil des EuGH (s. z.B. bei Rechtsanwalt Michael Seidlitz hier) stellt die Äußerung des EuGH in einen größeren Kontext und gestattet die Frage, ob der EuGH den Satz eventuell nur auf Nutzer des Access Providers Scarlet bezogen wissen wollte. Denn für diesen sind die Daten ohnehin (relativ) personenbezogen.

Der Generalanwalt des EuGH hatte diesbezüglich in seinem Schlussantrag formuliert (s. http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:62010C0070:DE:NOT):

75. Eine zweite Schwierigkeit besteht darin, zu bestimmen, ob es sich bei IP-Adressen um personenbezogene Daten handelt. Der Gerichtshof hatte sich bisher nur mit Fällen zu befassen, bei denen es um Daten ging, die mit IP-Adressen verbundene namentlich genannte Personen betrafen(56) . Er hatte hingegen noch nicht die Gelegenheit, zu prüfen, ob IP-Adressen als solche als personenbezogene Daten eingestuft werden können(57).

78. Somit können IP-Adressen als personenbezogene Daten eingestuft werden, soweit sich anhand ihrer eine Person identifizieren lässt, durch Verweis auf eine Kennung oder irgendein anderes Merkmal, das die Person kennzeichnet(63).

Vor diesem Hintergrund kann man zumindest davon ausgehen, dass der EuGH sich des Streits um den Personenbezug bewusst war, als er die Gründe formulierte.

Es stellt sich zunächst die Frage, welchen Bezugspunkt der EuGH hier verwendet hat. Er spricht von der Identifizierung derjenigen Nutzer, „die die Sendung unzulässiger Inhalte in diesem Netz veranlasst haben“. „In diesem Netz“, das ist das Netz des Access Providers Scarlet. In einem Filesharing-Netzwerk gibt es eine Vielzahl von Personen, die an der Übertragung teilnehmen. Beschränkt man dies gedanklich auf Quelle und Senke, sind beides Nutzer, die die Sendung „veranlasst haben“, unabhängig davon, welcher von beiden im Netz des Betreibers ist. Es könnte allerdings mehr dafür sprechen, dass der EuGH den Nutzer im Netz von Scarlet meinte, denn nur er kann dafür sorgen, dass der Filesharing-Verkehr tatsächlich im Netz von Scarlet landet – er wäre daher der „Veranlasser“.

Allerdings hätte der EuGH vor diesem Hintergrund zum Personenbezug im Grunde keinen Ton verlieren müssen. Denn dass Scarlet seine Nutzer zu jedem Zeitpunkt identifizieren kann, stand und steht außer Frage. Dafür werden nicht einmal die IP-Adressen benötigt. Im System von Scarlet erfolgt eine solche Identifizierung vermutlich viel eher über die Anschlussnummer oder sogar eine weiter Identifikationsnummer. Insofern könnte es sich auch eine gewollte Klarstellung durch den EuGH in Richtung eines absoluten Personenbezugs handeln.

Man sollte weiter nicht übersehen, dass der EuGH seine Ausführungen auf den ersten Blick offen formuliert hat. Die Argumentationslast dafür, dass das Urteil des EuGH nicht für die Theorie des absoluten Personenbezugs spricht, liegt daher auf Seiten der Vertreter der (engeren) relativen Theorie.